Samstag, 2. Februar 2013

meine Polio




Samstag, 5. September 2009


Verantwortung für MEIN Leben - die Polio


Freisein durch Polio


(Über alle meine Blogs findet ihr eine Liste unter
http://mein-abenteuer-mein-leben75.blogspot.com/

Freisein durch Polio - das hört sich irgendwie falsch an. Meine Erfahrungen in 55 Jahren Polio sind aber, daß ich sehr wohl freier statt eingeschränkter wurde: vielleicht ist es mir angeboren, vielleicht aber hat die starke Einschränkung meiner Lebensmöglichkeiten durch die Lähmungen mich auch dazu gedrängt, mir neue Freiheiten zu suchen und zu erarbeiten. Es ist ja nun nicht mehr möglich, allen Regeln der Gesellschaft zu folgen: du kannst nicht mehr ordentlich oder gar sportlich gehen, laufen, springen, schwimmen, klettern ... bist so langsam, mußt andere Kleidung tragen, weil die herkömmliche nicht zu deinen Orthesen und Krücken, deinem Wärmebedürfnis, deinen geschwächten Händen und so weiter passt ... - und all das macht dich einigermaßen unabhängig von den Entscheidungen der Gesellschaft, du bist nun frei nach eigenem Geschmack und Gutdünken zu entscheiden.

Nach einem Jahr Krankheit und Rehabilitation nahm ich 1954 zuerst das unterbrochene Studium der Biologie wieder auf und spezialisierte mich schließlich auf Meeresbiologie, schon ganz schön extrem für einen, an dessen Körper fast nichts ungelähmt blieb (außer dem rechten Arm). Und tauchte mit den Sinnen tief ein ins Meer, ließ mich genüßlich von Wind und Meerwasser umspülen, erst beim Hochseesegeln, dann durch Expeditionen auf Forschungsschiffen. Sehr dankbar bin ich da besonders den vielen Seeleuten und Mitstudenten, die meine Probleme erkannten und den Enthusiasmus mochten und mir halfen, wo es nötig war, ganz einfach, ohne zu übertreiben. Freisein bedeutet da auch zu fragen, wenn man Hilfe braucht, und freundlich nein zu sagen, wenn sie nicht benötigt wird.

Zwölf Jahre nach der Polio kam die Übernahme eines meeres-wissenschaftlichen Forschungsauftrages in Indien für ein-einhalb Jahre. Dort habe ich das erste Mal von den alten indischen Wegen der Selbstbefreiung von sogenannten Identifikationen erfahren: Befreiung vom "ich bin dieser, ich bin jener, ich bin so schwach und kann dies und das nicht, ich habe diese und jene Pflichten ...", und lernte: Freisein bedeutet, diese Dinge zu erkennen aber sich nicht von ihnen drücken zu lassen sondern darüber zu stehen, sich nicht mit ihnen zu identifizieren. Und dann war ich so frei, mit indischen Bekannten in ihren Hütten und Häuschen am Boden sitzend mit den Fingern ihre würzigen Speisen zu essen, mich in weiße oder bunte Wickelröcke (Lungi genannt) zu kleiden, ihre Tempel, Moscheen, Kirchen oder ihre Betplätze im Wald zu besuchen und mit ihnen zu meditieren und Gott anzubeten - oder eine Naturgottheit ... bis ich selbst die Denkgewohnheiten der westlichen Wissenschaft langsam zurückließ, hinterfragte und halber klassischer Inder wurde - doch so frei blieb, daß ich auch bei ihnen dies und das infrage stellen konnte, genauso wie in der eigenen Kultur.

... auch die Idee, wieder in Deutschland eine Familie zu beginnen mit einer Frau, für die meine freiheitlichen Ideen manchmal schwierig zu verstehen waren, und zwei Töchtern ... dann ein Haus, ein Garten ... und immer der Beruf mit schwierigen Schiffsreisen und lieben Kollegen: in 25 Jahren über 200 Ausreisen, meistens zwei oder drei Tage lang, aber auch mal 6 oder 8 Wochen im Stück auf See.

Freisein bedeutet weiter, wie Andrew Cohen es ausdrückt: jedwede künstliche, erlernte, theoretische Idee aufgeben, was es bedeuten soll, daß ich ein Mann bin, eine Frau bin. Freisein bedeutet, mich nicht daran festzuhalten sondern DAS als Mann, als Frau zu leben, was mir durch meine Natur mitgegeben wurde, das reicht aus. In dieser Freiheit sind mit einem Mal alle gesellschaftlichen Zwänge, mich wie eine Frau, wie ein Mann zu benehmen, fort und dann wird es gerade für einen Menschen mit so starken körperlichen Einschränkungen einfacher, leichter. Mein Mann-Sein bleibt aber offensichtlich und bedarf keiner Demonstration durch die Kleidung oder gewisse „männliche” Verhaltensweisen, ich kann mich kleiden, wie es meine veränderten körperlichen Bedingungen erfordern, oder am Ende so, wie ich Lust habe (ohne andere zu verletzen), also zum Beispiel im langen, weiten, bunten Rock - wie meistens. - Cohen schreibt in der Zeitschrift „Was ist Erleuchtung? / What is enlightenment?”, zu bestellen vom Sandila-Verlag: info@sandila.de, und hier gibt es Informationen über diese Zeitschrift: http://www.wie.org/DE/home/default.asp .

Praktisch gesehen habe ich gelernt, daß meine Beine die dicken Orthesen (Schienen aus Eisen und Leder) benötigen, daß sie Wärme brauchen, die ich ihnen mit langen Strümpfen gebe (mit Strumpfhosen ist es einfach zu schwierig), daß ich immer zwei Krücken benutzen muß und den Rollstuhl nicht mehr allein ins/aus dem Auto heben kann und mir nun einen Kran für den Rollstuhl basteln muß, daß Bus- und Bahnfahren sehr beschwerlich geworden ist, so daß ich fast überhaupt nicht mehr verreise, weil das lange Autofahren (und Fliegen schon gerade) zu umwelt-un-freundlich ist, daß ich zwar das handwerkliche Geschick aber nicht mehr die Körperkraft habe um schöne Dinge zu machen ...

Und da fordert der Freiheitswille mich auf´s Neue: wie gestalte ich mein Leben allein zuhause und mache etwas Interessantes daraus. Bemühen um geistiges und spirituelles Wachsen ist mein großes Anliegen, das kann ich auch zuhause, und das wird nicht eingeschränkt durch meine Lähmungen oder durch mein Älterwerden (nun bin ich 76).

Heute wird mir bewußt, daß ich eigentlich mit der Polio – als ich 20 war – sehr plötzlich sehr gealtert war, jedenfalls der Körper. Geist und Seele konnten das nicht mittragen. Das gab große Herausforderungen an beide, die ich nicht so schnell erfüllen konnte wie es der Körper verlangte, ich bin nicht ausreichend weise geworden. Damit war auch immer wieder einerseits Wehleidigkeit verbunden, andererseits der innere (auch äußere?) Druck, tapfer und leistungsfähig zu sein. Tapferkeit ist auch einigermaßen gelungen. Leistung nicht so sehr: weder im Beruf noch in der Ehe noch im eigenen wirtschaftlichen Erfolg war ich gut.

. . . und da ich zeitlich nicht so wie beweglichere Menschen in Anspruch genommen war - also wegen der Unfähigkeit, manche Dinge zu tun -, hatte ich Zeit, mich meinem spirituellen Wachstum zu widmen. Doch auch die finanziellen Möglichkeiten und Großzügigkeiten meiner Eltern haben dazu beigetragen, daß ich mich entwickeln konnte.

Schließlich habe ich einen Sprung gewagt und bin zu Osho gegangen, um das Wachsen der Weisheit nachzuholen und an die Situation anzupassen. Dabei ist einiges sehr schnell gekommen.

Ein Wichtiges habe ich im Laufe der Jahre erst recht langsam zu erkennen gelernt: was ich vorhin zusammenfasste als "Wehleidigkeit" bezüglich meiner Körperschwächen. Immer wieder bekam ich Hinweise auf diese schwierige Eigenschaft, besonders während einer 5-Tage-Gruppe "Heldenreise". Da hatte ich mal wieder zu akzeptieren, daß ich vieles nicht kann, was ich brauche oder möchte. Das ist oft schmerzhaft, und sehr oft bin ich früher vor dieser Erkenntnis geflohen und habe mir Ersatz-Muster aufgebaut, recht künstlich, gebe ich zu. Nicht echt und natürlich. Habe Kraftakte (wie Seereisen und Reisen nach Indien) gespielt, die sehr nahe an meine Grenzen gingen – schön aber ermüdend.

Während der Heldenreise bin ich an dieses Thema rangegangen (mal wieder, also nicht das erste Mal) und habe die Wehleidigkeit, Trauer, Hilflosigkeit usw diesem "Dämon" in mir in die Verantwortung gegeben. ER musste dann mit mir – "Held" genannt – in Konfrontation gehen. Durch diesen Prozess ist die Wehleidigkeit und mangelnde körperliche Fähgigkeit nicht verschwunden, aber ich kann eher akzeptieren, daß sie zu mir gehören, ein wesentlicher Teil meines Täglichen sind, unvermeidbar. Der Dämon ist ebenso integrierter Teil meines Wesens wie der Held – und das macht das Leben leichter.

Jetzt weiß ich auch, daß es – wenigstens in meinem jetzigen Alter – nicht notwendig ist, sich und anderen immer wieder zu beweisen, daß ich was kann und Kraft habe. Das ist ein großer Freiheitsgewinn.

Und mit 77 bin ich in eine Commune gezogen. Hier ist das Leben einfacher, und mein Zimmer ist warm und gemütlich, und die Kinder sind süß und eindrucksvoll. Die Zipperlein des Körpers vermehren sich, doch das gehört zu meinem Leben dazu.

 



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